02.02.2016

Aerodynamische Modelle - eine Übersicht

Aerodynamisches Modell und Segelmodell sind nicht dasselbe, da es neben den Segelkräften weitere durch den Wind hervorgerufene Krafteinwirkungen gibt:

Tabelle 1: Windkräfte
Segelkräfte$F_{{x}_s}^A, F_{{y}_s}^A$
Windwiderstand des Rumpfes$F_{{y}_r}^A, F_{{x}_r}^A$
Windwiderstand des Masts$F_{{x}_m}^A, F_{{y}_m}^A$
Windwiderstand der Verstagung$F_{{x}_v}^A, F_{{y}_v}^A$

Die Gesamtkräfte und Momente setzen sich additiv aus den einzelnen Komponenten zusammen:

$\quad \text{(1)} \qquad F_x^A = F_{{x}_s}^A + F_{{x}_r}^A + F_{{x}_m}^A + F_{{x}_v}^A$

$\quad \text{(2)} \qquad F_y^A = F_{{y}_s}^A + F_{{y}_r}^A + F_{{y}_m}^A + F_{{y}_v}^A$

$\quad \text{(3)} \qquad M_x^A = M_{{x}_s}^A + M_{{x}_r}^A + M_{{x}_m}^A + M_{{x}_v}^A$

Das eigentliche Segelmodell bestimmt lediglich den jeweils ersten Summanden der Gleichungen (1)-(3). Dazu muss es die Kräfte in $x$- und $y$-Richtung bestimmen und die Höhe des Angriffspunktes der Segelkräfte $CE_{{z}_s}^H$ in $z$-Richtung. Für die jeweils drei weiteren Kräfte in den Gleichungen (9) und (10) werden getrennte Modelle benötigt. Auch sie müssen die Kräfte in $x$- und $y$-Richtung, sowie ihre Angriffpunkthöhen $CE_{{z}_r}^H, CE_{{z}_m}^H, CE_{{z}_v}^H$ liefern, um die Krängungsmomente bestimmen zu können.

Die hier angegebenen Segelkräfte in $x$-, $y$- und $z$-Richtung bilden ein segel-festes Koordinatensystem, wobei $x$ in Profilrichtung verläuft, die beim Segel als die Sehne des Segels definiert wird und als Widerstandskräfte $F_D$ (drag) bezeichnet werden. In der Decksebene senkrecht dazu stehen die $y$-Kräfte, die im Segelmodell als Auftriebskräfte $F_L$ (lift) bezeichnet werden. Ich spreche hier bewußt nicht von den Vortriebs- und den Krängungskräften, weil das assoziieren würde, dass die mit dem Segelmodell gefundenen Kräfte diejenigen wären, die in Fahrtrichtung als Vortrieb und quer dazu als Krängungskräfte wirken. Das ist NICHT der Fall. Die Kräfte müssen erst mit Hilfe des Angriffswinkels des scheinbaren Windes in das Schiffskoordinatensystem umgerechnet werden, damit daraus Vortriebs- und Krängungskräfte werden. Die Formel dafür gebe ich im Rahmen der VPP-Berechnungen an. Zunächst geht es also nur um die Segelkräfte im Segelkkordinatensystem.

Zusätzlich bieten alle Modelle mehr oder weniger einfache analytische Modelle für den Windwiderstand von Aufbauten, Rigg und Verstagung an. Wegen meiner ausgefallenen Geometrien (Katamaran und Gittermast) würde ich mir aber eigentlich eine CFD-Berechnung der Rumpf- und Mastwindwiderstände wünschen. Dazu müsste ich die Rumpf- und Mastgeometrie für verschiedene Winekl im Bereich von 0° - 180° durch den virtuellen Windkanal drehen (CFD-Analyse). Um Rechenzeit zu sparen, wäre es sinnvoll vom Mast nur ein Segment zu rechnen. Leider kann NUMECA Fine/Marine Stand 2015 keine periodischen Symmetrien. Da das Problem auf Grund der einzelnen Flüssigkeit (Luft) relativ einfach ist, werde ich mal nach einem anderen CFD-Programm suchen, die das vielleicht können. Für den Anfang reichen die analytischen Modelle. Allerdings würde mich die Antwort auf diese Frage sehr interessieren, weil die Meinungen über den Windwiderstand von Gittermasten sehr weit auseinander gehen. Nur berechnet hat es leider nie jemand, von dem ich wüsste.

Um eine Geschwindigkeitsvorhersage für das Schiff machen zu können, benötigt man neben den hydrodynamischen Widerständen, die ich wie bereits erwähnt aus meinen CFD-Berechnungen gewinne, die Vortriebs- und Krängungskräfte, die die Segel ausüben. Ein Lösung per CFD scheitert zu diesem Zeitpunkt daran, dass ich keine Möglichkeit habe, eine Interaktion von Segelmaterial und Windkräften zu berechnen. Da die Verformungen der Segel durch den Wind aber erheblich sind, ist eine Vereinfachung mit fixen Flügelgeometrien nicht zielführend. Als bewährter Ersatz bieten sich analytische Modelle an, die auf experimentellen Daten für Auftriebs- (Lift $C_L$) und Widerstandsbeiwerten (Drag $C_D$) beruhen.

Das erste überhaupt bekannte analytische Segelmodell wurde im July 1978 von J.E. Kerwin im Rahmen des H. Irving Pratt Ocean Race Handicapping Project (kerwin1978) veröffentlicht. Dabei handelt es sich um ein sehr rudimentäres Modell, dessen Hauptproblem darin liegt, dass es nur auf einem Satz Koeffizienten für $C_L$, $C_D$ und dem Widerstandsbeiwert des induzierten Widerstandes $C_I$ beruht, die für die Gesamtbesegelung der Bay Bee ermittelt wurden. Eine sinnvolle Übertragung auf stark anders strukturierte Besegelungen ist dabei nur Glücksache. Auch verwendet Kerwin 181 Werte in ein Grad Schritten zwischen denen er wenn erforderlich linear interpoliert. 181 Werte für drei Koeffizienten ergeben eine recht große Datenmenge, die für damalige Computer durchaus eine Herausforderung darstellte. Schließlich ist die Abtrennung von $C_I$ auch etwas unglücklich, weil Kerwin annimmt, dass $C_I$ bei 120° plötzlich verschwindet. Damit es keinen Sprung in seinem Gesamtwiderstandsbeiwert $C_D+C_I$ gibt, hat $C_D$ bei 120° einen Sprung. Kerwin war aber auch der erste, der das Reffen und das Abflachen der Segel (reef, flat) in sein Modell einbezogen hat.

Direkter Nachfolger dieses Modells war George S. Hazens Modell, das er 1980 in A Model of Sail Aerodynamics for Diverse Rig Types (hazen1980) veröffentlicht hat. Dieses Modell legt, wie der Titel sagt, besonderen Wert auf die Berücksichtigung verschiedenartiger Riggtypen. Das erreicht Hazen dadurch, dass er $C_l$ und $C_{dp}$ für jedes Segel (Groß, Fock, Spi, Besan und Basanvorsegel) separat bestimmt und auch die Interaktion der Hauptmastsegel, Spi, Fock und Groß, mit den Besansegeln, also Besamhauptsegel und Besamvorsegel, mit Hilfe der biplane theory berücksichtigt. Ein weiter Vorteil ist, dass er pro Segel nur fünf Werte für $C_l$ und $C_{dp}$ benötigt, weil er diese mit einer Splinefunktion interpoliert. $C_{di}$ wird jetzt mit Hilfe der Tragflügeltherie (lifting line theory) von Prandtl (1875-1953), einem deutschen Physiker, der in Göttingen forschte und lehrte, bestimmt. Dabei spielt im Wesentlichen das Seitenverhältnis der Segel (aspect ratio, AR) eine Rolle. Segelendeffekte berücksichtigt Hazen durch einen fixen koeffizienten $K''=0.005$, der gewichtet mit den Auftriebsbeiwerten zum Quadrat und der jeweiligen Segelfläche und normiert auf den Gesamtauftriebswert zum Quadrat und die Normfläche $A_{norm}$ den zusätzlichen Widerstandbeiwert $K_{pp}$ bildet. Ein wesentlicher Nachteil dieses Modells ist die einfache Dreiecksgeometrie des Großsegels. Der größte Vorteil diese Modell ist, dass er in seiner Veröffentlichung ein komplettes BASIC Programm abgedruckt hat, so dass die Funktionsweise vollständig dokumentiert ist, was man von dem ORC-Modell nicht gerade behaupten kann.

Die Prinzipien des Modells von Hazen bilden noch immer die Grundlage des ORC-Modells im Jahre 2015. Das ORC-Modell hat diese Prinzipien lediglich weiterentwickelt: Es gibt weitere Segeltypen (Code0, heute als fore sail set flying bezeichnet, ein neues Reff- und Abflachungssystem (RED (= reduction)), das davon ausgeht, dass zuerst abgeflacht wird, dann die Fock und schließlich das Groß gerefft werden, die Abschattung des Spinnaker durch das Groß wird berücksichtigt, die Geometrie der Segel wird genauer mit Hilfe der Trapezregel bestimmt, so dass auch eine Ausstellung des Tops (roach) berücksichtigt werden kann. Die effektive Spannweite (Höhe des Riggs) wird für verschiedene scheinbare Windwinkel angepasst und so weiter. Die Formeln suggerieren, dass es auch Abschattungsfaktoren für andere Segel gibt, dokumentiert sind sie aber nicht. Die Frage ist aber auch, ob man das wirklich benötigt: Bei achterlichem Wind wird man sowieso ziemlich bald (bei ca. 100-120°) auf den Spinnaker wechseln, so dass eine Abschattung der Fock nicht wirklich auftritt.

Im Prinzip sind das alles Korrekturfaktoren, die man auf Grundlage von Messungen und Simulationen eingeführt hat, um das Modell genauer zu machen, um weniger Spielraum für ausnutzbare Lücken zu lassen. Denn am Ende geht es beim ORC um eine Ausgleichsformel (handycapping), um verschiedene Designs fair gegeneinander antreten lassen zu können. Wie ein solches System allerdings fair sein kann, wenn es nicht zu 100% public domain ist, will ich hier mal dahingestellt sein lassen. Man kann ja für €500,00 pro Jahr das Programm vom ORC lizensieren. Nur leider funktioniert es wie gesagt nicht mit Katamaranen...